Mit dieser 2. Ausgabe der „Kleinen Paragraphenreiterei“ will ich einen Absatz aus dem Freispruch in Leipzig besprechen. Bei aller Freude über den Freispruch, ist mir hier doch auch die Schlampigkeit bei Subsumtion der Gewalt aufgestoßen. Ich halte es für wichtig, dass wir uns bei aller Freude über Freisprüche immer auch eine kritische Distanz gegenüber Urteilen und juristischen Begründung bewahren. Nur so können wir beständig lernen und unsere Argumentation immer besser ausbauen.
Der Freispruch des AG Leipzig: AG Leipzig vom 4.7.23, Az. 217 Cs 617 Js 57304/22
„Die durch die Angeklagten verursachte unter Ziff. II geschilderte Straßenblockade erfüllt den Straftatbestand der Nötigung, § 240 Abs. 1 StGB. Diese stellt nach der sog. „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des BGH (Urteil vom 20.07.1995 1 StR 126/95) Gewalt im Sinne der Vorschrift dar. Die erforderliche physische Zwangswirkung lag zwar nicht im Verhältnis der Demonstranten zu den Fahrzeugführern in den jeweils ersten Reihen vor, wohl aber in dem der ersten Reihe zu den nachfolgenden Fahrzeugführern. Sofern von Seiten der Verteidigung der Angeklagten (…) vorgebracht wurde, dass ein Umfahren über den Geh- bzw. Fahrradweg möglich gewesen sei, so kann dieser Argumentation nicht gefolgt werden. Selbst wenn man diese Umfahrungsmöglichkeit annehmen würde, wären die Verkehrsteilnehmer trotzdem erstmal zum Anhalten gezwungen gezwungen gewesen. Gerade die auf der linken Spur stehenden Pkws hatten nicht die Möglichkeit, sich auf den Radweg zu begeben. Letztlich würde die Argumentation jedoch dazu führen, dass die blockierten Autofahrer dazu angehalten wären, sich selbst rechtswidrig zu verhalten und dabei auch unbeteiligte Dritte zu gefährden. Das Umfahren der Blockade über Rad- und Gehweg, das im vorliegenden Fall wohl auch unkoordiniert und unübersichtlich geworden wäre, so dass auch hier mit weiteren Behinderungen zu rechnen gewesen wäre, ist vor allem aus dem Grund, Radfahrer und Fußgänger nicht zu gefährden, nicht erlaubt, so dass man die Verkehrsteilnehmer hierauf nicht verweisen kann.“
Das Gericht beruft sich hier im Wesentlichen auf die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des BGH, hat diese aber ganz offensichtlich nicht wirklich verstanden. Richtig zitiert das AG Leipzig, dass die „erforderliche physische Zwangswirkung (...) zwar nicht im Verhältnis der Demonstranten zu den Fahrzeugführern in den jeweils ersten Reihen vor(lag), wohl aber in dem der ersten Reihe zu den nachfolgenden Fahrzeugführern“. Warum dies so ist, erörtert das Gericht dabei nicht. Der BGH hatte sich hier nämlich auf die „Mutlangen-Entscheidung“ (BVerfGE 92,1) des BVerfG bezogen, in der festgestellt wurde, dass für das Vorliegen von Gewalt ein Minimum an körperlicher Kraftentfaltung erforderlich sei. Diese sei durch das bloße sich auf der Fahrbahn niederlassen aber nicht gegeben, da der Fahrzeugführer hier nicht deshalb anhalte, weil das Hindernis körperlich unüberwindbar wäre, sondern weil seine Tötungshemmung ihn am Überfahren der Blockierer*innen hindere.
Erst der nach ihm Kommende hat ein physisches Hindernis vor sich, jedenfalls dann, wenn er das erste Fahrzeug nicht umfahren kann. Dann nämlich würde er das erste Fahrzeug rammen und wäre spätestens dann am Weiterfahren gehindert.
Wenn er aber das erste Fahrzeug umfahren kann, fehlt es genau an dieser körperlichen Zwangswirkung, die für die Tatbestandserfüllung der Gewalt in § 240 StGB notwendig ist.
„Selbst wenn man diese Umfahrungsmöglichkeit annehmen würde, wären die Verkehrsteilnehmer trotzdem erst mal zum Anhalten gezwungen gezwungen gewesen.“
Über diesen Punkt habe ich schon bei unserem letzten Strategietreffen philosophiert. Strafbar ist eine Nötigung mit Gewalt zu einer „Handlung, Duldung oder Unterlassung“. StA und Gerichte lassen es grundsätzlich offen, welche dieser Tatbestandsalternativen erfüllt ist. Hier zeigt sich aber, wie relevant diese Frage sein kann. Die Richterin in Leipzig ging hier ganz offensichtlich von der Tatbestandsalternative einer Handlung aus, denn der Fahrer musste bremsen. Genau diese Tatbestandsalternative fand aber innerhalb einer noch geschützten Versammlung statt. Selbst wenn wir diesen Umstand außer Acht lassen, kann die Tatbestandsalternative der Handlung nicht zu Recht angenommen werden, denn auch bei anderen, nicht rechtswidrigen Tatbestandsverwirklichungen müssen die Fahrzeugführer*innen bremsen. Wenn sie bis zu Auflösung oder Verlegung einer Versammlung warten müssen, kommen sie um das Bremsen ebenso wenig herum, wie in dem Fall, dass sie umdrehen oder eine Umfahrung nutzen, die sie in aller Regel nicht sicher befahren, wenn sie nicht zuvor das Tempo verringert haben. Das heißt, alle denkbaren Tatbestandsalternativen, in denen nur das Handeln durch Bremsen vorliegt, sind ohnehin straffrei.
„Letztlich würde die Argumentation jedoch dazu führen, dass die blockierten Autofahrer dazu angehalten wären, sich selbst rechtswidrig zu verhalten und dabei auch unbeteiligte Dritte zu gefährden.“
Hier zeigt sich für mich, dass die Richterin die o.g. Entscheidung des BVerfG nicht gelesen oder nicht verstanden hat. Durch das Hinsetzen auf die Straße wird eine psychische Barriere errichtet, die nicht strafbar ist. Das gilt, obwohl das mit dem Weiterfahren verbundene Überfahren der blockierenden Personen die Autofahrer*innen sich rechtswidrig verhalten würden. Wenn es nicht strafbar ist, allein durch die Anwesenheit des eigenen Körpers auf der Fahrbahn die betroffenen Autofahrer*innen zu der Entscheidung zu zwingen, ob sie das Leben der Sitzenden achten oder sich mindestens wegen Totschlags strafbar zu machen, dann kann dies nicht plötzlich dadurch strafbar werden, weil der/die Autofahrer*in sich gezwungen sieht eine Verkehrsordnungswidrigkeit zu begehen.