Im Folgenden erklären wir, was eine Gesamtstrafe ist und wie du diese während eines Gerichtsprozesses, aber auch im Nachhinein – also nach mehrfacher rechtskräftiger Verurteilung – bilden kannst! Ganz unten findest du drei Szenarien, die auf dich zutreffen könnten bezüglich Bildung einer Gesamtstrafe mit praktischen Schritten, die du dementsprechend ergreifen kannst. Falls du Fragen hast, wende dich wie immer gerne an [email protected]!
Am Ende dieser Seite findest du eine Übersicht, was genau wichtig ist, für dich praktisch mitzunehmen (;
Worum geht es bei der Gesamtstrafe?
Das “Tool” der Gesamtstrafe ist in erster Linie dann wichtig, wenn Aktivist:innen an mehreren Aktionen beteiligt gewesen sind und für mehr als eine Aktion nun ein Strafverfahren droht, also ein Strafverfahren, in dem mehrere Proteste verhandelt werden.
Hat eine Person mehrere Straftaten begangen, so besteht also gemäß §§ 53, 54 StGB die Möglichkeit, aus den Einzelstrafen eine Gesamtstrafe zu bilden. Der Vorteil bei gemeinsamer Aburteilung liegt für den/die Täter:in darin, dass eine Gesamtstrafe zu bilden ist (§ 54 StGB) und diese die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen darf - das wirkt sich bis auf einige seltene Sonderkonstellationen eigentlich immer positiv aus.
Während § 53 StGB die Voraussetzungen der Gesamtstrafenbildung beinhaltet, ist die Vorgehensweise zur Festlegung der Gesamtstrafe in § 54 StGB geregelt.
Werden mehrere selbstständige Straftaten einer Person in einem einzigen Verfahren abgeurteilt, so ist bei Vorliegen einer Tatmehrheit eine Gesamtstrafe zu bilden.
Was bedeutet nun aber Tatmehrheit? Tatmehrheit liegt vor, wenn mehrere, voneinander unabhängige Handlungen dasselbe oder unterschiedliche Strafgesetze verletzen.
Beispiel: Aktivist:in macht montags eine Straßenblockade und dienstags nochmal eine Straßenblockade - zwei komplett voneinander unterschiedliche Handlungen, die beide jeweils in sich abgeschlossen sind. Da sie das gleiche Strafgesetz verletzen, liegt eine gleichartige Tatmehrheit vor. Wenn mensch nun aber montags eine Straßenblockade macht und dienstags Farbe auf ein Ministerium wirft, so liegt eine ungleichartige Tatmehrheit vor. In beiden Fällen liegt aber die für § 53 StGB nötige Tatmehrheit vor - es kommt also nur darauf an, dass zwei Taten begangen wurden.
Davon abzugrenzen ist die Tateinheit. In diesem Fall werden durch die selbe Handlung mehrere Strafgesetze (potentiell) verletzt. So wird z.B. gerade in Berlin für das Festkleben im Rahmen einer Straßenblockade häufig sowohl Nötigung (§ 240 StGB) als auch Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) angeklagt. Bei Tateinheit wird nur die schwerste Strafe angewendet und keine Gesamtstrafe gebildet.
Nun gibt es einige Grundsätze, nach denen sich die Gesamtstrafe bildet. Das Wort Gesamtstrafe ist vielleicht irreführend, weil es nicht darum geht, die Strafen, die durch die Taten für sich genommen drohen, stumpf zu addieren.
Es wird nur die höchste Einzelstrafe erhöht. Im Beispiel oben (Aktivist:in macht eine Blockade und einen Farb-Protest an einem Ministerium) droht bei der Blockade eine höhere Strafe wegen Nötigung als bei dem Farb-Protest wegen Sachbeschädigung. Das Gericht nimmt nun die höhere Strafe der Nötigung und erhöht diese wegen der Sachbeschädigung geringfügig. Als Faustregel gilt, dass die geringeren Strafen etwa halbiert und dann zur höchsten Einzelstrafe hinzu addiert werden. Bei 3 Geldstrafen in Höhe von 60 und zweimal 40 Tagessätzen würde das dann z.B. bedeuten, dass sich eine Gesamtstrafe von 60 + 20 + 20 = 100 Tagessätzen ergibt. Dies ist allerdings nur eine Faustregel und Gerichte können davon abweichen.
In der Regel ist die Gesamtstrafenbildung wegen des “Mengenrabatts” günstig für verurteilte Menschen, aber es können sich auch Nachteile ergeben.
Die Tagessatzhöhe (X Tagessätze zu je Y Euro) für die Gesamtstrafe nach dem letzten Urteil bestimmt, das noch mit in die Gesamtstrafe mit einbezogen wird. Falls sich die Einkommenssituation der verurteilten Person zwischen den Verfahren verändert hat oder aus anderen Gründen bei dem späteren Verfahren ein höheres Einkommen angenommen wird, erhöht sich damit auch die Tagessatzhöhe für die gesamten Tagessätze. Dies kann dazu führen, dass die Geldstrafe dann im Ergebnis höher wäre als ohne Gesamtstrafenbildung, weil zwar die Anzahl der Tagessätze gesunken ist, aber die Höhe des einzelnen Tagessatzes deutlich erhöht wurde.
Rechenbeispiel: Einzelstrafen sind 60 TS zu je 15 €, 40 TS zu je 15 € und 30 TS zu je 40 € und die Urteile sind auch in dieser Reihenfolge ergangen. Ohne Gesamtstrafenbildung ergibt sich eine Summe von 900 € + 600 € + 1.200 € = 2.700 €. Mit Gesamtstrafenbildung reduziert sich zwar die Anzahl der Tagessätze auf 60 + 20 + 15 = 95 Tagessätze, aber die Summe liegt bei 95 x 40 € = 3.800 € und ist damit deutlich höher als ohne Gesamtstrafe.
Ein weiterer Nachteil kann das Zusammentreffen von Freiheits- und Geldstrafe als Einzelstrafen sein. In diesem Fall wird die Freiheitsstrafe im Regelfall entsprechend erhöht (§ 53 Abs. 2 S. 1 StGB), indem die Geldstrafe vorher in eine Freiheitsstrafe umgewandelt wird (1 Tagessatz = 1 Tag, 30 Tagessätze = 1 Monat, vgl. § 54 Abs. 3 StGB). Gerichte müssten in diesem Fall aber eigentlich zugunsten der angeklagten Person davon absehen eine Gesamtstrafe zu bilden oder können auch von der Möglichkeit Gebrauch machen, statt der Erhöhung der Freiheitsstrafe daneben auf eine zusätzliche Geldstrafe zu erkennen (§ 53 Abs. 2 S. 2 StGB).
Die Umwandlung der Strafe ist nur in eine Richtung (Geldstrafe wird zu Freiheitsstrafe) möglich. Eine weitere faktische aber nicht echte „Umwandlung“ einer Geldstrafe in eine Freiheitsstrafe ist die Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB): Kann die Geldstrafe nicht beigetrieben werden, kann die Ersatzfreiheitsstrafe angeordnet werden. Dabei entsprechen seit der jüngsten Gesetzesänderung zwei Tagessätze einem Tag Ersatzfreiheitsstrafe (vgl. § 43 S. 2 StGB). Strategisch dürfte es (für die einzelne Person mit mehreren Verfahren) sinnvoll sein, die Rechtskraft hinauszuzögern und anschließend die ausgeurteilten Strafen nicht vollständig abzugelten, um im Ergebnis möglichst viele Verurteilungen im Rahmen einer einzigen (nachträglichen) Gesamtstrafe zusammenzufassen.
Wichtig: Werden Taten nach einer rechtskräftigen Verurteilung begangen, bildet dies eine Zäsur für die Gesamtstrafenbildung. Diese Taten können in die Gesamtstrafe nicht mehr einbezogen werden. Hierauf kann dann auch kein Einfluss mehr genommen werden (außer das Absehen von der Begehung weiterer Taten nach einer ersten rechtskräftigen Verurteilung). Kommt es jedoch zu mehreren Taten nach der Verurteilung, können auch auch diese wiederum zu einer gesonderten Gesamtstrafe zusammengefasst werden.
Auch nach einem Urteil ist die nachträgliche Gesamtstrafenbildung durch Antrag an das Gericht möglich, wenn beispielsweise eine bisher nicht rechtskräftige, aber grundsätzlich einbeziehungsfähige Strafe später rechtskräftig wird (§ 460 StPO).
Hier ein Beispiel zur nachträglichen Gesamtstrafenbildung (§ 55 StGB), die in folgender Konstellation relevant wird: Nachdem eine Aktion verurteilt wird, findet ein weiteres Verfahren über eine andere Aktion statt. Im Falle der Verurteilung im zweiten Verfahren stellt sich die Frage, ob nachträglich, durch das Zweitgericht, für beide Aktionen eine (nachträgliche) Gesamtstrafe gebildet werden muss. Das ist der Fall, wenn
Beispiel: A hat am 1.1.2023 und am 2.2.2023 an Aktionen teilgenommen. Am 5.5.2023 wird A vom Amtsgericht wegen der Aktion am 1.1.2023 zu einer Geldstrafe verurteilt. Am 6.6.2023 wird A wegen der zweiten Aktion am 2.2.2023 zu einer Geldstrafe verurteilt. Wenn die erste Verurteilung am 6.6.2023 schon rechtskräftig ist, A aber die Strafe noch nicht (vollständig) bezahlt hat, muss das zweite Gericht die beiden Geldstrafen berücksichtigen und eine einzige Gesamtstrafe bilden. Ist die erste Verurteilung noch nicht rechtskräftig, kommt auch keine nachträgliche Gesamtstrafe in Betracht, da noch nicht sicher ist, ob die Strafe bestehen bleiben wird. Keine Gesamtstrafe kann außerdem gebildet werden, wenn es keine Strafe mehr gibt, weil sie abgegolten, also vollständig erledigt ist (Geldstrafe vollständig bezahlt oder durch Ersatzfreiheitsstrafe abgegolten, Freiheitsstrafe abgesessen).
Im Ergebnis sind also alle diejenigen Strafen für Aktionen gesamtstrafenfähig, die vor der ersten (rechtskräftigen) Verurteilung begangen worden sind. (Rechtskraft kann durch Rechtsmittel oder Verhalten im Verfahren (mehrere Hauptverhandlungstermine, entspricht aber auch ggf. höheren Kosten!) hinausgezögert werden.)
Die Verfahrensverbindung kann faktisch (nur) angeregt werden, entschieden wird sie durch das Gericht. Ein Anspruch von Angeklagten besteht nicht. Allerdings lohnt es sich, auf die Zeitersparnis und auf den Umstand hinzuweisen, dass die Taten einander ähneln und ohnehin gesamtstrafenfähig wären (wenn das der Fall ist). Das sollte dann möglichst früh beantragt werden, am besten schon vor einer Ladung.
Rechtskräftige Verurteilungen werden dem Bundesamt für Justiz gemeldet, das diese im Bundeszentralregister (BZR) einträgt. Einen Auszug aus diesem Register holen sich die Staatsanwaltschaften und Gerichte jeweils vor der Gerichtsverhandlung. Die Eintragung dauert jedoch einige Zeit und erscheint nicht mit dem ersten Tag der Rechtskraft im Register. Es gibt also Fälle, in denen das Gericht über die Vorstrafe nicht informiert ist. Dann gilt: Mitteilung an das Gericht mündlich (im Prozess) oder schriftlich (am besten möglichst früh und noch vor Hauptverhandlungstermin), am besten unter Angabe des Datums, Aktenzeichens und der Strafhöhe und des Datums der Rechtskraft. Eine Vorlage dafür findest du hier.
Ob die anderweitige Verurteilung dem Gericht mitgeteilt werden sollte oder nicht, ist im Einzelfall zu entscheiden. Denn eine rechtskräftige Verurteilung kann straferhöhend für die neue Verurteilung wirken, sodass die neu auszuurteilende Einzelstrafe möglicherweise höher wird, als die erste Einzelstrafe. Auf der anderen Seite können Gericht und Staatsanwaltschaft durch Hinweis auf eine rechtskräftige Vorverurteilung teilweise auch dazu bewegt werden, das aktuelle Verfahren im Hinblick auf die bereits erfolgte Bestrafung einzustellen (§ 154 StPO), weil die im aktuellen Verfahren zu erwartende Strafe (bei der Gesamtstrafenbildung) nicht wesentlich ins Gewicht fallen würde. Häufig sind die Chancen hierfür besser, wenn die Vorverurteilung eine höhere Strafe beinhaltet als im aktuellen Verfahren (z.B. im Strafbefehl) beabsichtigt oder vorgesehen ist.
Die Gesamtstrafe ist für dich wichtig, wenn du wegen mehrerer Straftaten angeklagt wirst, die du unabhängig voneinander begangen hast, also z.B. verschiedene Blockaden an verschiedenen Tagen. Dabei ist egal, ob die Straftaten denselben oder unterschiedliche Straftatbestände erfüllen!
Die Gesamtstrafe bringt dir in aller Regel ausschließlich einen Vorteil: Du erhältst eine geringere Strafe, als die einzelnen Strafen summiert ergeben würden!
Szenario 1: Du wirst wegen aller Taten zusammen angeklagt
Wenn du wegen aller Straftaten zusammen angeklagt wirst, wird das Gericht selbständig eine Gesamtstrafe bilden. Für dich hat das den Vorteil, dass so die Strafe geringer ist, als wenn jede Tat unabhängig abgeurteilt wird. Bei einer Gesamtstrafe wird nur die Strafe für die “schwerste” Tat verhängt und abhängig von den anderen Taten erhöht.
Szenario 2: Dir werden verschiedene Verfahren gemacht
Zunächst: Das sollte nicht passieren! Wenn die Taten zusammen abgeurteilt werden können, sollen sie das auch. Es kann aber zum Beispiel sein, dass die Staatsanwaltschaft erst später von einer Tat erfährt und diese auch anklagen will.
Hier kommt die Gesamtstrafe ins Spiel, wenn du
(Nur) dann muss das Gericht deine bereits erhaltene Strafe erhöhen und darf nicht eine zusätzliche verhängen. Sag dem Gericht auf jeden Fall Bescheid, wenn die Gesamtstrafe relevant werden könnte!
Szenario 3: Das Gericht bildet keine Gesamtstrafe, obwohl es das eigentlich gemusst hätte
Wenn dir verschiedene Verfahren gemacht wurden, muss das Gericht unter den genannten Voraussetzungen eine Gesamtstrafe bilden. Wenn das nicht gemacht wird, kannst und solltest du das nachträglich beantragen. Das Gericht wird dann im Nachhinein die Gesamtstrafe bilden. In der Regel wird dafür das Gericht zuständig sein, dass die höhere Strafe verhängt hat.
Wenn die nachträgliche Gesamtstrafenbildung daran scheitert, dass einzelne Urteile bereits vollstreckt sind (d.h. die Geldstrafe, auf die Verfahrenskosten kommt es nicht an, bereits in Gänze bezahlt ist), ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ein sog. Härteausgleich durchzuführen. Hiernach darf der Täter nicht deshalb schlechter stehen, weil ein Urteil bereits vollstreckt ist. Folglich ist er so zu stellen, als wenn §§ 53, 54 StGB unmittelbar angewendet worden wären. Wie der Tatrichter zu diesem Ergebnis kommt (Berücksichtigung des Nachteils oder sog. Fiktive Gesamtstrafenbildung) ist diesen überlassen. Letztendlich wird das gleiche Ergebnis erreicht, unabhängig davon ob eine Einzelstrafe bereits vollstreckt wurde oder nicht.